Blicke

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Der erste Blick, an den ich mich erinnere, der meiner Mutter?
Da ist ein anderes Bild. Ein lächelndes Gesicht
über dem Gekräusel von Rüschen.
Das Babykörbchen, von meiner Mutter beschrieben.
Das Gesicht, später wiedererkannt auf einem Foto.
Tante Betty. Sie starb, jung, als ich gerade laufen lernte.

Meine Mutter hatte viele Blicke. Heiter manchmal, traurig öfter.
Manchmal durch mich hindurch. Glasig, wenn sie trank.
Später wurde ihr Blick flach, suchte nicht mehr die Tiefe.
Und doch hatte sie mich auf Blick dressiert.
Ihre Augen zwei Stoppschilder. Stillsitzen. Mund halten.
Mein Fuß auf der Bremse des Tretautos, das ich nie bekam.

Der Blick des Lehrers. Ich um die richtige Antwort verlegen.
Dann wieder umgekehrt. Ich hätte antworten können
und wurde keines Blickes gewürdigt. Und manchmal traf es gut.
Die Blicke der Erwachsenen. Zu laut gelacht. Strafender Blick.
Zuviel gewusst. Überraschter Blick. Zu eng der Pullover.
Abschätzender Blick. Ist sie noch? Hat sie schon? Wird sie bald?

Der Blick der ersten Liebe. Der Blick meines Bruders im Geiste,
das Herz mir tätowierend mit Zeichen, die nur die Seele kennt.
Der Blick, der bittet: Versteh. Lieben ist Verstehen. Ich weiß.
Ihm nachgeblickt durch einen Tränenschleier.
Der Blick meines Kindes, so voller Vertrauen.
Der Blick aller Kinder, das Herz uns prüfend.

All die Blicke der Freunde,der Bekannten, der Fremden.
Fragend, forschend, neugierig, herausfordernd, kalt, verstohlen.
Über den Tisch hinweg, über Köpfe hinweg, im Vorbeigehen.
Dein Blick ist anders. Fängt meinen ein und nimmt ihn mit.
Lässt sich einfangen und mitnehmen. Wir schauen gemeinsam.
Unter deinem Blick schließe ich die Augen und sehe.